Dank unserer Informationsgesellschaft und allumfassenden Internets fühlt sich jedermann zu allem berufen. Schlagartig ist man umgeben von selbsternannten Ärzten, die in jedem Fachgebiet Spezialist sind. Der Erfahrungsbericht einer Person wird kurzer Hand zur Checkliste umfunktioniert und ohne dass man sich versieht, hat man Leistenbruch, Blinddarm, Herz-Rythmus-Störungen, Depressionen – und das natürlich alles gleichzeitig. Wozu da noch zum Arzt gehen und womöglich 10 Euro Praxisgebühr dalassen, wenn man die Diagnose doch selbst stellen kann. Ohne es zu merken, macht das Internet einen schnell zum Hypochonder oder die Mücke zum Elefanten.
Ich hatte vergangene Woche einen Durchhänger, der seines gleichen suchte. Ein Freund nahm das Wort ‚Winterdepression‘ in den Mund und schon war ich am googlen und tatsächlich ergab die Checkliste: Winterdepression. Man muss nur auf die richtigen Seiten gehen und irgendwo passen die Symptome dann auch.
Zwei Tage später ging es mir wieder blendend. Da ich aber schon öfter von Winterdepressionen gehört habe, wollte ich mehr darüber erfahren und hab mich gestern mit einer Bekannten auf einen Kaffee getroffen, die ihres Zeichens Psychologin ist. Allein meine Anfrage lies bei ihr schon die Alarmglocken klingeln und ich war schon unsicher, worauf ich mich da eingelassen hatte. Nicht dass ich zum Schluss durchanalysiert bin und als seelisches Frack dastehe.
Es war natürlich alles halb so schlimm. Analysiert wurde ich trotzdem.
Das man im Winter etwas unter Normal fährt, ist nichts Ungewöhnliches und liegt nicht selten daran, dass man weniger Zeit im Freien verbringt und die kurzen Tage den Hormonhaushalt beeinflussen können. Ausschläge nach oben oder unten – also Hochgefühl oder Stimmungstief – sind ganz normal. Ob daraus eine Winterdepression wird, steht ganz woanders geschrieben und das zu diagnostizieren ist Aufgabe eines Arztes. Und das sollte es auch bleiben, denn das Fallbeispiel einer Person lässt sich nie 1:1 auf eine andere übertragen. Jeder Mensch hat individuelle Erfahrungen, die ihn mehr oder weniger nachhaltig prägen. Diese und viele andere Aspekte spielen in so eine Diagnose rein und können manchmal sogar nur mit anderen Fachärzten gemeinsam abgeklärt werden.
Ähnlich ist es mit der Prokrastination. Diesen Begriff hab ich wirklich erst diesen Winter kennengelernt, aber er scheint omnipräsent zu sein und inflationär genutzt zu werden. Und ich weiß nicht wie viele Tweets ich mit #prokrastination abgesetzt habe oder es als Ausrede für meine Anflüge mangelnder Motivation angeführt habe. Prokrastination ist ein Verhaltensbild und ich wette, die meisten, die dieses anführen, sind eigentlich nur faul, motivationslos oder schlicht unzufrieden mit der derzeitigen Situation, aber leiden nicht wirklich unter Prokrastination.
Was ich in meinem Gespräch gestern gelernt habe ist u.a. die Form der Therapie. Ich finde „Therapie“ ist ein sehr starkes und hartes Wort, bei dem man dazu neigt, gleich schwerste psychische Störungen zu assoziieren. Im Winter spazieren gehen oder regelmäßig Laufen gehen, ist eine Therapie gegen Stimmungstiefs, da Licht tanken und Bewegung die Ausschüttung bestimmter Neurotransmitter anregt. Und niemand wird glauben, man wäre ein Fall für die psychatrische Anstalt, wenn man Laufen geht!
Viele Probleme lassen sich somit in Eigentherapie lösen. Dazu gehört, den eigenen Schweinehund zu überwinden. Das muss man sich bewusst machen und sich an manchen Stellen selbst zwingen (beispielsweise durch Terminsetzung oder Versprechungen), den Fuß vor die Tür zu setzen.
Bevor man nun aus der Mücke einen Elefanten macht, sollte man meiner Meinung nach erstmal an sich selber arbeiten. Im Zweifelsfall ist es vollkommen unverfänglich sich professionellen Rat zu holen. Dazu sind es Profis! Und im übrigen gibt es vielerorts Beratungsstellen, bei denen keinerlei Daten erhoben werden, die womöglich in Personalakten oder dergleichen auftauchen.